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»Kleinigkeit, Kleinigkeit!« sagte der Baron selbstgefällig. »Sechs magere Milchbärte – und feige wie alle Krämer. Im Goldenen Hufeisen habe ich zwei Dutzend von der Sorte verjagt … Wie gut«, wandte er sich an Rumata, »daß ich damals nicht mein Kampfschwert bei mir hatte! Aus Zerstreutheit hätte ich es entblößen können. Obwohl ja das Goldene Hufeisen eigentlich keine Taverne ist, sondern bloß eine Schenke …«

»Manche behaupten auch«, sagte Rumata, »daß es heißt: Zieh nicht in den Schenken! «

Die Wirtin brachte neue Schüsseln mit Fleisch und mehr Wein. Der Baron krempelte die Ärmel auf und machte sich an die Arbeit. »Übrigens«, sagte Rumata, »wer waren denn die drei Gefangenen, die Sie im Goldenen Hufeisen befreiten?«

Der Baron hörte auf zu kauen und starrte Rumata an. »Aber, mein teurer Freund, ich habe mich wohl nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich hab niemanden befreit. Ja, ja, sie waren verhaftet, aber das ist eine Angelegenheit des Staates … Warum hätte ich sie befreien sollen? Irgendein Don wahrscheinlich, ein großer Feigling, ein alter Bücherwurm und sein Diener …« Er zuckte mit den Schultern. »Ja, natürlich«, sagte Rumata.

Da schoß dem Baron plötzlich das Blut ins Gesicht, und er rollte seine Augen furchterregend. »Was?! Schon wieder?!« brüllte er.

Rumata drehte sich um. In der Tür stand Don Ripat. Der Baron fuhr auf und warf dabei Bänke und Schüsseln um. Don Ripat blickte Rumata bedeutungsvoll an und ging wieder hinaus. »Ich bitte um Vergebung, Baron«, sagte Rumata im Aufstehen. »Der Dienst des Königs ruft …«

»Ah …«, murmelte der Baron enttäuscht. »Ich bemitleide Sie … Um nichts in der Welt würde ich dienen!« Don Ripat erwartete ihn vor der Tür. »Was gibt es Neues?« fragte Rumata. »Vor zwei Stunden«, teilte ihm Don Ripat geschäftig mit, »habe ich auf Befehl des Sicherheitsministers, Don Reba, Dona Okana verhaftet und in den Turm der Fröhlichkeit bringen lassen.«

»So«, sagte Rumata.

»Vor einer Stunde starb Dona Okana. Sie hat die Torturen nicht überstanden.«

»So«, sagte Rumata.

»Offiziell hat man sie der Spionage angeklagt. Aber …« Don Ripat wurde verlegen und schaute zu Boden. »Ich glaube … Mir scheint …«

»Ich verstehe schon«, sagte Rumata. Don Ripat blickte ihn schuldbewußt an. »Ich war machtlos …«, wollte er beginnen. »Das ist nicht Ihre Sache«, sagte Rumata heiser. Don Ripats Augen wurden zinnfarbig. Rumata nickte ihm leicht zu und ging an seinen Tisch zurück. Der Baron beendete gerade eine Schüssel mit faschierten gehackten Muscheln.

»Estorischen!« keuchte Rumata. »Und sie sollen reichlich bringen!« Er würgte einen Klumpen in der Kehle hinunter. »Wir werden uns jetzt unterhalten! Hol’s der Teufel, wir werden uns unterhalten …!«

 … Als Rumata zu sich kam, entdeckte er, daß er mitten auf einem großen unbebauten Platz lag. Eine graue Dämmerung zog herauf, in der Ferne schrien mit heiseren Stimmen die Hähne ihren Weckruf. In dichten Schwärmen krächzten die Krähen und zogen über irgend etwas Unangenehmem in der Nähe ihre Kreise. Es roch nach Fäulnis und Verfall. Der Nebel in Rumatas Kopf zerteilte sich rasch, die gewohnte durchdringende Klarheit und Exaktheit der Sinneseindrücke kehrte zurück. Auf der Zunge zerging ihm angenehm die Minze des Kummers. Die Finger der rechten Hand schmerzten stark. Rumata hob seine verkrampfte geballte Faust vor die Augen. Die Haut an den Knöcheln war zerfetzt, und in die Faust war eine leere Ampulle Kasparamid gepreßt, ein starkes Mittel gegen Alkoholvergiftung, mit dem die Institute der Erde vorsichtshalber alle ihre Kundschafter auf den übrigen Planeten ausstatten. Offenbar hatte er, bevor er inmitten der großen unbebauten Fläche völlig in seine tierische Bewußtlosigkeit verfallen war, unbewußt und instinktiv den ganzen Inhalt der Ampulle in den Mund geschüttet.

Die Gegend war ihm vertraut. Vorn ragte das Skelett des niedergebrannten Observatoriumturms schwarz in die Höhe, und links davon stachen die Wachtürme des königlichen Palasts dünn wie Minarette in die Dämmerung. Mit einem tiefen Zug atmete Rumata die feuchtkalte Luft ein, dann machte er sich auf den Heimweg. Baron Pampa hatte sich in dieser Nacht einmal so ganz nach seinem Geschmack unterhalten: In Begleitung eines Häufchens geldloser Dons, die leicht dazu neigten, ihre Würde zu verlieren, vollführte er einen gigantischen Streifzug durch die Kneipen von Arkanar, wobei er eine unwahrscheinliche Menge Alkohol und Fressereien vertilgte und unterwegs nicht weniger als acht Raufereien hinter sich brachte. An acht Raufereien jedenfalls konnte Rumata sich genau erinnern, in die er eingegriffen hatte, um zu versuchen, die Streitenden wieder auseinanderzubringen und wenigstens das Ärgste zu verhindern. Alles übrige war in einem Nebel versunken. Aus diesem Nebel tauchten nur einmal raubtierhafte Fratzen mit Messern zwischen den Zähnen auf, dann wieder das fassungslos bittere Gesicht des letzten geldlosen Dons, den sich Baron Pampa im Hafen als Sklaven zu verkaufen bemühte, dann wieder ein vor Wut kochender Irukanier mit übergroßer Kartoffelnase, der mit bösen Augen sein Pferd von den edlen Dons zurückforderte. Anfangs blieb Rumata noch der Kundschafter. Er trank nicht schlechter als der Baron: Irukanischen, Estorischen, Soanischen und Arkanarischen; aber jedesmal, wenn er die Weinsorte wechselte, steckte er sich heimlich eine Ampulle Kasparamid in den Mund. Er bewahrte sein gesundes Urteilsvermögen und bemerkte, wie sich die Grauen Patrouillen in größerer Anzahl als gewöhnlich an den Kreuzungen und Brücken postierten, dann eine Wache berittener Barbaren auf der soanischen Überlandstraße, wo sie den Baron wahrscheinlich glatt erschossen hätten, wenn Rumata nicht den Dialekt der Barbaren beherrscht hätte. Er erinnerte sich deutlich, wie ihn der Gedanke durchzuckte: Die unbeweglichen Reihen wunderlicher Soldaten in langen schwarzen Überwürfen und Kapuzen, die vor der Patriotischen Schule Stellung genommen haben – das ist doch die Garde der Mönche. Was hat die Kirche hier zu suchen? hatte er gedacht. Seit wann mischt sich denn in Arkanar die Kirche in weltliche Angelegenheiten?

Er wurde nur sehr langsam betrunken, bekam aber dann doch einen Rausch, und zwar sehr plötzlich, wie mit einem Schlag. Und als er in einem lichten Augenblick den zertrümmerten Tisch in einem ihm völlig unbekannten Zimmer bemerkte, das entblößte Schwert in seiner Hand und die kläglichen händeringenden Gestalten der verarmten Dons ringsum, hätte er beinahe daran gedacht, daß es Zeit sei, nach Hause zu gehen. Aber es war schon zu spät. Eine Woge von toller Wut hatte ihn erfaßt und eine abscheuliche, unwiderstehliche Freude daran, alles Menschliche abwerfen zu können. Aber er war doch der Erdenbürger geblieben und der Kundschafter, ein Nachkomme der Menschen des Feuers und Eisens, die sich selber nicht schonen und auch vor sonst nichts haltmachen im Namen eines großen Zieles. Er konnte nicht Rumata von Estorien bleiben, Fleisch vom Fleisch der zwanzig Generationen kriegerischer Vorfahren, die wegen ihrer Räuberei und Trunksucht berühmt waren. Aber er war auch nicht mehr der Kommunarde. Er fühlte sich dem großen Experiment nicht mehr verpflichtet. Ihn kümmerten nur noch die Verpflichtungen sich selbst gegenüber. Und er hatte auch keine Zweifel mehr. Es war ihm alles klar, absolut alles. Er wußte nun genau, wer an allem schuld war, und er wußte auch genau, was er wollte: blindlings dreinschlagen, ins Feuer werfen, von den Stufen des Palasts herab auf die Lanzen und Mistgabeln der tobenden Menge …

Rumata fuhr zusammen und zog seine Schwerter aus den Scheiden. Die Klingen hatten Kerben, waren aber blank. Er erinnerte sich daran, mit jemandem gekämpft zu haben. Aber mit wem? Und wie hatte das alles geendet …?

 … Ihre Pferde hatten sie versoffen. Die verarmten Dons waren irgendwohin verschwunden. Rumata – auch daran konnte er sich erinnern – hatte den Baron zu sich nach Hause geschleppt. Pampa Don Bau war unternehmungslustig, scheinbar völlig nüchtern und voll und ganz bereit, die Unterhaltung fortzusetzen – er konnte sich bloß nicht mehr auf den Beinen halten. Außerdem glaubte er aus irgendeinem Grund, er habe sich eben erst von der lieben Baronin verabschiedet und befinde sich auf einem Feldzug gegen seinen Erzfeind, den Baron Kaska, der sich bereits zu den äußersten Frechheiten erkühnt hatte (»Urteilen Sie doch selbst, mein Freund, dieser Halunke gebar aus seiner Hüfte einen sechsfingrigen Knaben und nannte ihn Pampa …«).

»Die Sonne geht schon unter«, erklärte er, als er einen Gobelin betrachtete, der einen Sonnenaufgang zeigte. »Wir könnten noch die ganze Nacht durchzechen, edle Dons, aber vor der Schlacht brauchen wir Schlaf. Keinen Tropfen Wein während des Kampfes! Außerdem wäre die Baronin unzufrieden.«

»Was? Ein Bett? Was für Betten auf einem Schlachtfeld? Unser Bett ist das gesattelte Streitroß.« Mit diesen Worten riß er den Gobelin von der Wand, wickelte sich bis zum Kopf in ihn ein und polterte mit Getöse in die Ecke unter den großen Leuchter. Rumata befahl dem Knaben Uno, einen Kübel Salzgurken und ein Faß Sauerkraut neben den Baron zu stellen. Der Knabe zeigte ein ärgerliches, verschlafenes Gesicht. »Da, da hat er sich eingerollt«, brummte er. »Die Augen schauen in verschiedene Richtungen …« – »Schweig, Dummkopf«, sagte Rumata daraufhin, und – dann geschah etwas. Etwas sehr Gemeines, etwas sehr Niederträchtiges, das ihn durch die ganze Stadt bis auf den freien Platz jagte. Etwas sehr, sehr Gemeines, Unverzeihliches, Peinliches …

Die Erinnerung wurde wieder wach, als er sich seinem Haus näherte. Da blieb er kurz stehen.

 … Uno zur Seite schiebend, kroch er die Stiege hoch, stieß die Tür auf und stürzte zu ihr hin, als ihr Herr. Und beim Licht der Straßenlaterne sah er das weiße Gesicht und riesige Augen voll Schrecken und Abscheu – und in diesen Augen sich selbst, taumelnd, mit herunterhängender, speichelbedeckter Unterlippe, mit Fäusten, von denen die Haut in Fetzen hing, in besudelten Kleidern, sah er einen niederträchtigen, gemeinen blaublütigen Schuft. Und dieser Blick wirbelte ihn zurück, auf die Treppe, hinunter, in die Vorhalle, durch die Tür und hinaus auf die finstere Straße und weiter, weiter, immer weiter, soweit wie möglich weg …

Er biß die Zähne zusammen, fühlte, wie sich in seinem Innern alles verkrampfte und zu Eis erstarrte, dann öffnete er leise die Tür und trat auf Zehenspitzen in den Flur. In einer Ecke schnarchte friedlich wie ein gigantisches Walroß der Baron. »Wer da?« rief Uno, der auf einer Bank mit dem Wurfspieß auf den Knien schlummerte. »Still!« befahl Rumata flüsternd. »Marsch in die Küche. Einen Kübel Wasser, Essig und neue Kleider, marsch!«

Lange, heftig und genüßlich übergoß er sich mit Wasser, rieb sich mit Essig ab und befreite sich so vom Schmutz der Nacht. Uno hüllte sich ganz gegen seine Gewohnheit in Schweigen und ging seinem Herrn zur Hand. Und erst dann, als er ihm seine lächerliche fliederfarbene Hose mit den Fußspangen zuknöpfen half, meldete er mürrisch:

»In der Nacht, als Ihr hinausliefet, kam Kyra herunter und fragte, ob der Herr hier war oder nicht, meinte dann aber, daß ihr wohl geträumt habe. Ich sagte, daß Ihr von Eurer Nachtwache, die Ihr gestern abend angetreten habt, noch nicht zurück seid …« Rumata seufzte tief und wandte sich ab. Aber dadurch wurde nichts besser. Nur schlechter.

» … Und ich hab die ganze Nacht mit dem Wurfspieß in der Hand beim Baron gesessen: Ich hatte Angst, er würde im Rausch nach oben kriechen.«

»Danke, mein Kleiner, danke«, brachte Rumata mit Mühe heraus. Er zog Schuhe an, ging in den Vorraum und blieb kurz vor dem dunklen Metallspiegel stehen. Das Kasparamid wirkte zuverlässig. Der Spiegel zeigte einen eleganten edlen Don mit einem nach der anstrengenden Nachtwache ein wenig müden Gesicht. Aber in höchstem Maße wohlanständig. Die vom Goldreif eingefaßten feuchten Haare fielen schön und weich zu beiden Seiten seines Gesichts herab. Rumata richtete mit einer automatischen Handbewegung das Objektiv an der Stirn. Hübsche Szenen beobachten sie heut auf der Erde, dachte er düster.

Inzwischen graute der Morgen. Durch staubige Fenster blickte die Sonne. Die Fensterläden klapperten. Auf der Straße hörte man verschlafene Stimmen. »Gut geschlafen, Bruder Kiris?« – »Dank sei dem Herrn, Bruder Tika, gut. Die Nacht ist vorbei, Gott sei Dank.« – »Aber bei uns hat jemand gegen die Fenster geschlagen. Der edle Don Rumata, hört man, ist in der Nacht ausgegangen.« – »Man sagt, er hat einen Gast.« – »Da ist er also ausgewesen heute? Beim jungen Prinzen, denk ich, ist er gewesen und hat dabei nicht bemerkt, wie sie die halbe Stadt eingeäschert haben.« – »Was soll ich sagen, Bruder Tika. Danken wir Gott, daß wir in der Nachbarschaft einen solchen Don haben. Einmal im Jahr hält er Wache, und das ist schon viel …«

Rumata stieg die Treppe hinauf, klopfte und trat ins Herrenzimmer. Kyra saß im Lehnstuhl wie gestern. Sie hob die Augen und blickte ihm unruhig und erschrocken ins Gesicht. »Guten Morgen, meine Kleine«, sagte er, ging zu ihr hin, küßte ihr die Hände und setzte sich in den Lehnstuhl ihr gegenüber. Sie schaute ihn eine Zeitlang forschend an und fragte dann: »Bist du müde?«

»Ja, ein wenig. Und ich muß noch einmal fort heute.«

»Soll ich dir etwas vorbereiten?«

»Nein, danke. Uno macht das schon. Ach ja, vielleicht den Kragen bügeln …«

Rumata fühlte, wie zwischen ihnen eine Lügenwand emporwuchs. Zuerst ganz dünn, dann immer dicker und fester. Fürs ganze Leben! dachte Rumata bitter. Er saß da und bedeckte seine Augen mit den Händen, während sie ihm mit verschiedenen Parfüms vorsichtig den kräftigen Hals, die Wangen, die Stirn und die Haare einrieb. Dann sagte sie:

»Du fragst nicht einmal, wie ich geschlafen habe.«

»Nun wie denn, meine Kleine?«

»Ich hab geträumt. Einen schrecklichen, ganz schrecklichen Traum. Verstehst du?«

Die Mauer wurde dick wie ein Festungswall.

»An einem neuen Ort ist das immer so«, sagte Rumata heuchlerisch. »Und wahrscheinlich hat der Baron Radau geschlagen.«

»Soll ich das Frühstück bestellen?« fragte sie.

»Bestelle es!«

»Und welchen Wein hast du gern in der Früh?« Rumata öffnete die Augen.

»Laß Wasser bringen«, sagte er. »Am Morgen trinke ich nicht.« Sie ging hinaus, und er hörte, wie sie mit ruhiger, klangvoller Stimme zu Uno sprach. Dann kehrte sie zurück, setzte sich auf die Lehne seines Stuhls und begann ihm ihren Traum zu erzählen. Rumata hörte zu, zupfte sich nervös die Augenbrauen und fühlte, wie die Wand mit jeder Minute dicker und unerschütterlicher wurde und wie sie ihn für immer von dem einzigen Menschen trennte, der ihm lieb und wert war in dieser abscheulichen Welt. Und dann warf er sich plötzlich mit seiner ganzen Kraft gegen diese Wand. »Kyra«, sagte er. »Es war kein Traum!« Und es geschah nichts Außergewöhnliches.

»Mein Armer«, sagte Kyra. »Warte, ich bring dir gleich Salzgurken …«



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